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(Wilhelm Heyne Verlag, München 1984)
 
Philip José Farmer (1918 - 2009) war einer der ersten Autoren, die im (Proto-)Steampunk das eher Schräge pflegten - Phantastik mit einem surrealen, auch satirischen Touch und die (da Farmer ein echter Nerd war) intertextuell waren, die sich mit anderen bekannten literarischen Werken, fiktiven und auch realen Charakteren verknüpften. Seine Crossover-Geschichten wurden später als “Wold Newton-Universum” definiert. Dabei nahm Farmer Bezug auf einen realen Meteor, der 1795 in England nahe Wold Newton niederging. Farmer erfand eine Geschichte um den Meteor, dessen Strahlung in Farmers fiktionaler Vergangenheit genetische Veränderungen und damit ungewöhnliche Brillianz und Stärke verursacht haben soll - die “Kinder” dieser Veränderungen sollen Persönlichkeiten wie Tarzan, Kapitän Nemo, Doc Savage, Professor Challenger, Lord Peter Wimsey, Dr. Fu Manchu und viele andere sein. Und natürlich Sherlock Holmes.

Sherlock Holmes ist, wenngleich er nicht auftritt, im Zusammenhang mit Farmers amüsantem The Other Log of Phileas Fogg (1973, dt. Das echte Log des Phileas Fogg) von besonderem Interesse, weil Sir Arthur Conan Doyles genialer Held und dessen Rezeption praktisch im Alleingang eine Form des “Was wäre, wenn” generierten, aus dem zahllose Nachahmungen und auch viele Werke des Steampunk schöpfen. 1928 verfasste der Theologe und Kriminalschriftsteller Ronald Knox (1888 - 1957) seine Essays in Satire, die unter anderem einen Beitrag unter dem Titel Studies in the Literature of Sherlock Holmes enthalten. Darin täuscht er vor, den großen Detektiv und seinen getreuen Biographen Dr. John H. Watson für bare Münze zu nehmen und betrachtet mit scheinbar ernsthafter Wissenschaftlichkeit den Wahrheitsgehalt der Holmes-Geschichten. Knox, der ein eingefleischter Holmes-Fan war, verwendete hier Methoden, die sonst in der Religionswissenschaft zur Anwendung kommen, gegen die die Satire gerichtet war. Aber offensichtlich traf er einen Nerv. Holmesianer (wie sie in England genannt werden) und Sherlockianer (ihr US-Gegenpart) betrieben bald das, was seit Knox generell das “Spiel” genannt wird. Im “Spiel” werden Doyles Holmes-Romane und Erzählungen (in Anspielung auf Bibelforschung) als Kanon angesehen, die Existenz von Holmes und Watson in keiner Weise in Zweifel gezogen und Doyle selbst ironisch zu Watsons literarischem Agenten degradiert. Auf dieser Basis diskutiert man dann die Ungereimtheiten der Geschichten (War Watsons Wunde im Bein oder in der Schulter?), versucht Unerklärtes und Unerzähltes durch analytisches Vorgehen aufzulösen (Hießen alle Moriarty-Brüder mit Vornamen James?) oder spekuliert darüber, wer manche Persönlichkeiten, die aufgrund von Watsons Diskretion offensichtlich mit Pseudonymen versehen worden sind, in Wirklichkeit waren. Die “Spieler” waren dabei durchaus keine unbedeutenden oder albern-kindischen Fans - Dorothy L. Sayers (1893 - 1957), die Autorin der Detektivromane um Lord Peter Wimsey beispielsweise versuchte nachzuweisen, dass Watsons zweiter Vorname “Hamish” gewesen sei.
 
Philip José Farmer war selbst ein lebenslanger Holmes-Fan und mit dem “Spiel” bestens vertraut. Er kannte sicherlich William S. Baring-Goulds (1913 - 1967) fiktive Lebensbeschreibung Sherlock Holmes of Baker Street (1962, dt. Sherlock Holmes: Die Biographie) und wurde vermutlich auch durch sie zu seinen eigenen Biographien Tarzan Alive: A Definitive Biography of Lord Greystoke (1972) und Doc Savage: His apocalyptic life (1973) inspiriert. Den Anstoß zu The Other Log of Phileas Fogg gab ein 1959 in dem amerikanischen Holmes-Clubmagazin The Copper Beeches veröffentlichtes Essay von Professor H. W. Starr mit dem Titel A Submersible Subterfuge, or Proof Impositive (dt. Ein tauchfähiger Zufluchtsort oder Was zu beweisen wäre). Darin weitet Starr das “Spiel” kühn aus, indem er dem Kanon einige Werke Jules Vernes als ebenso real aufzufassende Schilderungen an die Seite stellt. Er diskutiert die Brüche und Widersprüche in Vingt mille lieues sous les mers (1869 - 1870, dt. 20000 Meilen unter den Meeren/20000 Meilen unter dem Meer) und L’Île mystérieuse (1874/75, dt. Die geheimnisvolle Insel) - letzteren verwirft er als Fiktion - genauso, wie zahlreiche Holmesianer und Sherlockianer es bereits mit dem Werk Dr. Watsons und seines literarischen Agenten Doyle gemacht hatten, analysiert Alter und Motivation Kapitän Nemos und "beweist" am Ende, dass Nemo in Wahrheit das naturwissenschaftliche Genie Professor James Moriarty war, der dann im Alter als kriminelles Meisterhirn die Unterwelt von London kontrollierte, bis Sherlock Holmes ihn zur Strecke bringen konnte. Moriarty taucht nur in einer einzigen von Doyles Kurzgeschichten und als Nebenfigur in einem Roman auf, aber als Enigma, das dem Meisterdetektiv ebenbürtig ist, wirft er naturgemäß einen langen Schatten.
 
Starrs Essay, dem Roman als Nachdruck beigegeben, beeindruckte Farmer tief, und letztendlich gibt er The Other Log of Phileas Fogg stilistisch den Anstrich, so etwas ähnliches wie eine wissenschaftliche Abhandlung zu sein, die die Lücken und Widersprüche in Le Tour du monde en quatre-vingts jours (1875, dt: Reise um die Erde in 80 Tagen/In 80 Tagen um die Welt) mit Farmers eigenen farbigen Ideen füllt und erklärt - und bei dieser Gelegenheit Starrs Deutung von Kapitän Nemo kapert und einbaut. Starr, von dem ein anderes intertextuelles Holmes-Essay, A Case of Identity, or, The Adventure of the Seven Claytons (1960) bereits zuvor eine der Anregungen für Farmers Tarzan-Biographie war, ist auch der Roman gewidmet: “einem Denker in bester Tradition Sherlock Holmes’, der Voyages Extraordinaires des Geistes unternimmt”.
 
Der zweite Trick, den Farmer dem Holmes-Universum entlehnt, ist einer aus zweiter Hand. Bereits die gothische Schauerliteratur bediente sich des Kniffs, sich auf den Fund authentischer Manuskripte zu berufen, um glaubwürdiger zu erscheinen. Bei Sherlock Holmes hielt die Idee 1970 in Billy Wilders grandiosem Film The Private Life of Sherlock Holmes [dt. Das Privatleben von Sherlock Holmes) Einzug - dort wird zu Beginn Dr. Watsons Nachlaß lange nach dessen Tod aus dem Tresor der Bank Cox & Co. geholt, darunter die Manuskripte unveröffentlichter Fälle. In den Folgejahren wurde dies die gängige Methode von Autoren, die neue Sherlock Holmes-Romane veröffentlichten - ständig tauchten irgendwo ererbte, in Antiquariaten schlummernde oder anderweitig aufgestöberte Manuskripte Dr. Watsons auf. Farmer nutzt hier dieselbe literarische Finte. Das “echte” Tagebuch Phileas Foggs wurde, laut Farmers Vorwort, in einem geheimen Versteck in Foggs altem Wohnhaus gefunden und - weil die Sprache, in der es verfasst ist, unbekannt war - von dem Linguisten Sir Beowulf William Clayton, Vierter Baronet von Clayton (also ein Nachfahre Tarzans), soweit möglich ins Englische übersetzt.

Was aber ist nun die Handlung von The Other Log of Phileas Fogg? Die läßt ich kurz zusammenfassen: Jedermann kennt Jules Vernes Le Tour du monde en quatre-vingts jours, aber die wenigsten wissen, was wirklich der Grund für Phileas Foggs tollkühne Wette gewesen ist. Fogg ist nämlich nicht nur ein Gentleman - er ist überdies ein Agent einer außerirdischen Rasse, die sich Eridaner nennt und die seit Urzeiten mit einer anderen außerirdischen menschenähnlichen Spezies, den Capellanern, im Krieg liegt. Während Foggs Vorgesetzer seine Fäden spinnt, fungiert Fogg als Lockvogel, um den Anführer der Capellaner aus seinem Versteck zu locken - den legendären Kapitän Nemo ...

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  • Das ist ja mal eine interessante Geschichte. Ich werden im Antiquariat stöbern gehen. Danke für die Vorstellung
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