[Buch] Die Tore in der Tiefe (1979)

10561981666?profile=RESIZE_400x

(Wilhelm Heyne Verlag, München 1986)

Dr. Bryan Alexander, Anglistik-Dozent an einer kleineren Universität im Maryland, erbt das Vermögen seiner verstorbenen Urgroßtante, das es ihm ermöglicht, seinen erschwindelten Job hinzuschmeißen und sich dem süßen Leben hinzugeben. Er reist nach Vermont, um sein Erbe anzutreten und findet bei der Sichtung des Nachlasses ein altes Manuskript - das Tagebuch eines gewissen Durham Kent, verfasst in den 1860er Jahren. Kent behauptet darin, mit Jules Verne befreundet gewesen zu sein und ihm seine Abenteuer mit Kapitän Nemo geschildert zu haben, die Verne dann in Vingt mille lieues sous les mers (1869/70, dt. 20000 Meilen unter den Meeren/20000 Meilen unter dem Meer) fiktionalisierte. Kent schildert überdies das “Kontinuum der unendlichen Wechselwelten” - Alternativwelten, die zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten durch eine Art Tor erreicht werden können. So ist Kent gemäß seiner Behauptung in unsere Welt gelangt. Alexander, der eigentlich Physiker (und ein nicht sonderlich symphatischer, sondern arroganter und selbstgerechter Held) ist, beschließt, den Wahrheitsgehalt des Tagebuches zu überprüfen. Er chartert ein Boot und dessen Besitzer, setzt Segel und macht sich auf den Weg. Natürlich finden sie das Tor, segeln hindurch - und werden prompt versenkt. Kapitän Nemo rettet die Beiden und nimmt sie an Bord der “Nautilus”. Von ihm erfahren sie mehr über diese Tore und die unterschiedlichen Parallelwelten, in denen die Zeit in unterschiedlicher Geschwindigkeit und die Geschichte in alternativen Bahnen verläuft (auf Nemos Zeitschiene ist der Bürgerkriegsgeneral Ulysses S. Grant, bei uns später Präsident der Vereinigten Staaten, noch vor der Schlacht von Gettysburg besoffen tödlich verunglückt). Außerdem geraten die Schiffbrüchigen in die Auseinandersetzung zwischen zwei Genies - Nemo und seinem Widersacher Robert Burton, alias Robur der Eroberer, der mit einem eigenen Tauchboot Jagd auf Nemos “Nautilus” macht ...

The Secret Sea (dt. Die Tore in der Tiefe) erschien 1979, am Ende der ersten großen Dekade der Steampunk-Literatur - fast ein Jahrzehnt, bevor K. W. Jeter den Begriff prägte. Der Amerikaner Thomas F. Monteleone (*1946) bedient sich eines ähnlichen Kniffs wie diverse andere Autoren, indem er seinen neuzeitlichen Protagonisten mit dem 19. Jahrhundert konfrontiert; anders als bei vielen kommt jedoch keine Zeitmaschine zum Einsatz, sondern besagte “Tore”. Im Übrigen folgt er den intertextuellen Gesetzmäßigkeiten vieler Steampunk-Romane, indem er die Romanfiguren Vernes - Nemo und Robur (aus Robur-le-conquérant (1886, dt. Robur der Eroberer/Robur der Sieger) und Maître du monde (1904, dt. Der Herr der Welt)) als real und gegeben hinnimmt. Freilich macht er aus Nemo - bei Verne eigentlich ein indischer Prinz namens Dakkar - einen amerikanischen Forscher, der eigentlich Percival Makepeace Goodenough heißt und der mit seiner Brillianz schon als junger Mann das Luftschiffprojekt des größenwahnsinnigen Robert Burton (bei Verne bleiben Herkunft und wahrer Name Roburs ungeklärt), eines Mitarbeiters des Weldon-Instituts, als fehlerhaften Pfeifentraum entlarvt. Einen Gastauftritt hat in Nemos Schilderung auch der exzentrische Kanonenclub von Baltimore und dessen Vorsitzender Barbicane, der Nemos wissenschaftlichen Nachweis, dass es unrealistisch ist, eine bemannte Kapsel mit einer Kanone auf den Mond zu schießen, deutlich dankbarer annimmt als Robur die Kritik an seinem Luftschiff, und der weltreisende Phileas Fogg und der Hohlweltforscher Arne Sacknussem finden zumindest Erwähnung.

Mindestens so viel Einfluß wie Vernes Romane haben aber die Verfilmungen auf Monteleones Werk - die “Nautilus” ist nicht das etwas nüchterne, torpedoförmige Schiff aus den Originalillustrationen, sondern hat eindeutig Harper Goffs ikonisches, liebevoll verspieltes Design aus Richard Fleischers Disney-Verfilmung 20000 Leagues under the Sea (dt. 20000 Meilen unter dem Meer) von 1954, während die Schilderung Nemos auch stark an James Mason aus dem Film gemahnt. Das Tauchboot Roburs, das “Krake” heißt, aber vom Aussehen her an einen Rochen erinnert, dürfte von der “Nautilus” aus Captain Nemo and the Underwater City (1970, dt. Kapitän Nemo, Regie James Hill) inspiriert sein, und Roburs Luftschiff “Albatros”, in den Illustrationen zu Robur-le-conquérant schlank, beinahe grazil wie eine Rasierklinge, ist hier “ein aufgeblähtes, plumpes Ding, dessen bulliger Körper von einer Unzahl vertikaler Wellen und Propeller in der Schwebe gehalten wurde”. Die Propeller gibt es natürlich auch bei Verne, aber die optische Plumpheit der “Albatros” scheint doch sehr der recht freien AIP-Verfilmung Master of the World (1961, dt. Robur, Herr der sieben Kontinente/Herr der Welt, Regie William Witney) entlehnt. Da ein Gutteil der Steampunk-Ästhetik generell aus den Filmen vor allem der fünfziger und sechziger Jahre schöpft, verfehlen Monteleones zeitweilig schwärmerische Schilderungen gerade des Interieurs der “Nautilus” beim Leser ihre Wirkung nicht. The Secret Sea entspricht sicherlich nicht dem “Gonzoismus,” den später Jeter für den Steampunk - namentlich seine pseudo-historischen Bücher und die seiner Freunde Tim Powers und James Blaylock - in Anspruch genommen hat, nicht zuletzt, weil ihm die satirischen Züge fehlen, die ein wesentlicher Bestandteil dieser Romane sind. Bruce Sterling und William Gibson, denen die Ironie Jeters bei seiner beiläufigen Prägung des Genre-Oberbegriffs gänzlich entgangen ist, definieren in The Difference Engine (1990, dt. Die Differenzmaschine) Steampunk als ein eher gesellschaftskritisches Vehikel, in dem das “Was wäre, wenn” die Fragen einer alternativen Entwicklung unter dem Gesichtspunkt der kolonialistischen Expansion und der Industriellen Revolution beleuchtet - auch dieser Aspekt spielt hier freilich keine Rolle. The Secret Sea ist einfach ein abenteuerliches intertextuelles Vexierspiel, eine Art von Edisonade, die unterhält, nichts wirklich hinterfragt und niemandem wehtut und ein durchaus lesenswerter Repäsentant dessen, was den Großteil heutiger Steampunk-Literatur ausmacht.

Sie müssen Mitglied von HMS-Anastasia sein, um Kommentare hinzuzufügen.

Join HMS-Anastasia

Ich möchte eine E-Mail erhalten, wenn Antworten eingehen –

Antworten

  • Oh, wie klasse. Das hatte ich noch gar nicht gelesen. Danke für die Anregung.
This reply was deleted.