[Buch] Sir Williams Maschine (1976)

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(Wilhelm Heyne Verlag, München 1977)
 
In vielen Proto-Steampunk-Romanen war die intertextuelle Beschäftigung mit dem Kanon der viktorianischen Voyages Extraordinaires, in denen die letzten weißen Flecken der Weltkarte, die Tiefen der Meere, der Äther, die Hohlwelt erforscht wurden, eher die Regel denn die Ausnahme. Jules Verne stand als einer der offiziellen Väter der Science Fiction ganz oben auf der Liste. Nicht weit unter dem Franzosen stand ein Brite, dem die "Science" in Science Fiction ziemlich Schnuppe war und der sich in der Regel eher mit den gesellschaftlichen Fragen und Folgen phantastischer Erfindungen und Entdeckungen beschäftigte: Herbert George Wells (1866 - 1946). Wells lies unsichtbare Größenwahnsinnige auf die Menschheit los, schuf Tiermenschen auf abgelegenen Inseln, ließ Nutzvieh in bedrohliche Größe wachsen, schickte Menschen auf den Mond, schilderte Ameiseninvasionen und Kometen, die auf die Erde zurasen - und er begründete sowohl das Subgenre der Zeitreise wir auch das der außerirdischen Invasion. Gerade die letzten beiden Werke - The Time Machine [1895, dt. Die Zeitmaschine] und The War of the Worlds [1898, dt. Der Krieg der Welten] - hatten einen ganz immensen Einfluss auf Autoren die nach ihm kamen. Beide spielen eine beträchtliche Rolle in The Space Machine [1976, dt. Sir Williams Maschine] von Wells' Landsmann Christopher Priest (*1943), den der Heyne Verlag dereinst mit dem augenzwinkernden Untertitel "Ein moderner klassischer Science Fiction-Roman" versah.

Priest war einer der jungen britischen Autoren der New Wave der sechziger Jahre, deren Ansinnen es war, die angestaubte, tendenziell rechtslastige Space Opera des sogenannten "Goldenen Zeitalters" der Science Fiction zu Grabe zu tragen und die viel eher progessive Themen interessierten als die Eroberung des Weltalls: Fragen zur Umweltökologie, zur Ausbeutung von Menschen und Rohstoffen, zu den Folgen von Kolonisation und Unterdrückung, zur sozialen Gerechtigkeit und zu Rassismus - das waren Themen, die Brian Aldiss (1925 - 2017), John Brunner (1934 - 1995) oder Michael Moorcock (*1939) (und in den USA Harry Harrison (1925 - 2012) oder Norman Spinrad (*1940)) beschäftigten. Priests Schnurre The Space Machine - sein vierter veröffentlichter Roman - scheint da auf den ersten Blick nicht hineinzupassen. Aber natürlich war Wells ein Sozialist und Kritiker von Konservativismus und Kapitalismus, und Priest war (und ist) ein großer Fan von Wells - und tatsächlich sogar seit 2006 Vizepräsident der internationalen H. G. Wells Society.
 
Der Roman beginnt wie eine von Wells' Gesellschaftssatiren. Der junge Handelsreisende in Lederwaren Edward Turnbull kommt im Jahr 1893 durch das Städtchen Shipton in Yorkshire. Turnbull vertritt die Ansicht, dass die Zukunft den Automobilisten gehört und hat daher seinen Brotherren dazu überredet, einige Muster von lederverstärkten Brillen für den Motorsport zu fertigen, die er seither vergeblich versucht, neben den üblichen Lederwaren seiner Kundschaft schmackhaft zu machen. Da erfährt er, dass die junge Assistentin des berühmten Erfinders und Automobilisten Sir William Reynolds im selben Gasthaus weilt und versucht, sich ihr bekannt zu machen, um ein Treffen mit Sir William zu erreichen, dessen Empfehlung der Brillen der kommerziellen Vermarktung mehr als zweckdienlich wäre. Eine direkte Ansprache wäre nach den Konventionen der Zeit unerhört und geradezu sittenwidrig, so dass er einen Plan schmiedet, welcher nur teilweise glückt und zu erheblichen Verwicklungen amüsanter, aber auch durchaus mißverständlicher Art führt. Zumindest in Shipton geht Turnbull - und auch der tatkräftigen Miss Amelia Fitzgibbon - der gute Ruf verloren, aber er erreicht sein Ziel und trifft Sir William, der indes an gänzlich neuen Formen der Fortbewegung arbeitet - einer Maschine, die Zeit und Raum durchqueren kann. Amelia führt Turnbull die Maschine vor, doch als die Zeitreise mitten in einem Krieg endet, beschädigt Turnbull versehentlich das ungewöhnliche Fahrzeug, das das Paar daraufhin auf einer fremden Welt abwirft, bevor es in sein eigenes Zeit-Raum-Kontinuum - und zu Sir William - zurückkehrt.

Die Welt, auf der Amelia Fitzgibbon und Edward Turnbull gelandet sind, ist natürlich der Mars, und die oktopoiden, vampirischen Beherrscher dieses Planeten haben ihre humanoiden Mitbewohner als Sklaven unterworfen. Untereinander führen die tentakelschwingenden Unholde einen ewigwährenden Krieg, doch schon bald fällt ihr Auge auf den Planeten Erde ...

The Space Machine ist natürlich ein Komplementärwerk zu sowohl The Time Machine als auch The War of the Worlds, kann aber bequem auch ohne Kenntnis der beiden Wells-Romane gelesen werden (wobei eine Familiarität mit den beiden Werken den Genuss naturgemäß vergrößert). Priests Buch (und die deutsche Übersetzung) verliert selbst in den dramatischen Situationen nicht den Griff um die heute absurd erscheinenden Konventionen des späten 19. Jahrhunderts; wenngleich sich Edward Hals über Kopf in die attraktive Amelia verliebt, die einen Gutteil der Zeit sehr viel rationaler und vernünftiger zugange ist als ihr verklemmter Romeo, dauert es mehr als die Hälfte des Romans, bevor sich beide dutzen - nämlich nachden er zu einer unvermeidlichen romantischen, sagen wir: Annäherung gekommen ist.

Wie die beiden sich verlieren und wiederfinden, wie sie eine Revolution anzetteln, wie sie zur Erde zurückgelangen und was H. G. Wells für eine Rolle spielt - das muss, das soll gelesen werden. Eine Empfehlung wird ausdrücklich ausgesprochen - auch unabhängig davon, dass Priest praktisch nebenher die heute längst unvermeidlichen goggles in den Steampunk eingeführt hat und daher das Buch ja schon fast als Pflichtlektüre zu bezeichnen wäre.

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